- Homer: Sagen gewinnen Gestalt
- Homer: Sagen gewinnen GestaltSänger gab es im ägäischen Raum schon im 3. Jahrtausend v. Chr., wie Kultstatuetten, Idole genannt, zeigen, und auch der Vortrag griechischer Götter- und Heldenlieder ist sehr viel älter als die beiden homerischen Epen, mit denen die schriftlich überlieferte europäische Literatur einsetzt.Auf den Burgen der mykenischen Zeit wurden wohl schon um 1200 v. Chr. Gesänge vorgetragen, darauf deutet ein Sängerfresko aus dem Palast von Pylos. Dieser Brauch dürfte sich in den folgenden, den Dunklen Jahrhunderten weiter entfaltet haben. Der Sänger, Aoidos, trug zur Leier aus dem Gedächtnis ein in sich zusammenhängendes Stück aus der Götter- oder Heldensage in Hexametern vor, wie wir das noch heute im achten Gesang der »Odyssee« lesen. Dabei stützte er sich auf Formeln, die an bestimmten Stellen des Verses ihren Platz haben. Zu ihnen gehören etwa die schmückenden Beiwörter wie »der fußschnelle Achilleus«, aber auch die Beschreibungen von häufigen, typischen Handlungen: »Als er/sie so gesprochen hatte, ging er/sie davon. ..«, oder, einen ganzen Vers füllend, um die Beendigung eines Mahles zu bezeichnen: »Aber als sie ihre Lust auf Trank und Speise gestillt hatten,. ..«. Auch größere Textstücke bei der Schilderung einer sich häufig wiederholenden ganzen Szene, etwa Opfer oder Mahlzeit, Empfang oder Abschied, Rüstung oder Aufbruch zum Kampf, waren formelhaft geprägt. Doch hatte hier und überhaupt in den umfassenderen Zusammenhängen der Aufführung der Sänger gewiss auch Spielraum zur improvisierenden Umgestaltung. Solche mündlich in der »Oral Poetry« tradierten und variierten Gesänge sind nun in den Bau der beiden homerischen Epen eingegangen.Die homerischen EpenDie beiden großen Epen »Ilias« und »Odyssee«, die uns unter dem Namen des eingangs als blinder Sänger abgebildeten Homer überliefert sind, stehen als geschlossene literarische Kunstwerke am Anfang der griechischen Literatur. Sie sind mit ihren rund 16 000 beziehungsweise 12 000 Hexametern in jeweils 24 Gesängen im 8. Jahrhundert v. Chr. entstanden. Unschwer lässt sich ein bis in Einzelheiten geplanter Aufbau mit Textbezügen über viele Gesänge hin nachweisen. Daher ist die Gestaltung des Ganzen von »Ilias« und »Odyssee« durch jeweils eine große Dichterpersönlichkeit unter Verwendung der Schrift kaum zu bestreiten.Schon seit dem Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. gab es in Griechenland die Meinung, die beiden Epen könnten nicht von ein und demselben Dichter stammen; zu dieser Ansicht neigt man auch heute. In der Neuzeit begann die kritische Analyse mit dem Abbé d'Aubignac (1664) und vor allem mit Friedrich August Wolf (1795). Sie setzte bei offensichtlichen Widersprüchen in den Epen an. Grundmuster des Fragens war und ist dabei bis heute: Was ist das Ursprüngliche, was sind spätere Erweiterungen? Die Neo-Analyse des 20. Jahrhunderts setzt dagegen vielfältige Vorstufen voraus, die in den erhaltenen Epen noch erkennbar sind, sieht aber in diesen im Wesentlichen jeweils eine dichterische Einheit. Daher lassen sich ihre Ergebnisse zu einem guten Teil mit denen der Oral-Poetry-Forschung zusammenfügen.Der künstlerische Griff ist in beiden Epen vergleichbar. Aus den zehn Jahren des Kampfes um Troja werden in der »Ilias« Ereignisse von rund 50 Tagen des letzten Kriegsjahrs erzählt, wobei der Großteil der Gesänge vier Kampftagen gewidmet ist. Thematisch wird die »Ilias« vom Zorn des Achilleus zusammengehalten. Er ist in seiner Ehre von Agamemnon, dem obersten Heerführer der Griechen, durch die Wegnahme seiner Kriegsbeute, der gefangenen Briseis, gekränkt und enthält sich trotz aller Bitten des Kampfes, was die Griechen an den Rand der Niederlage bringt. Als er daraufhin seinen Freund Patroklos mit seinen eigenen Waffen in die Schlacht sendet, wird dieser von Hektor erschlagen; jetzt wandelt sich Achills Zorn zum Streben nach Rache, und das führt zu einem gewaltigen Gemetzel unter den Troern und zum Tode Hektors durch Achill. Endgültig löst sich Achills Zorn im letzten Gesang, als er zusammen mit dem greisen König Priamos, der die Leiche seines Sohnes Hektor ausgelöst hat, über das eigene und das Los der Menschen klagt.Aus den zehn Jahren der Irrfahrten des Odysseus werden in der »Odyssee« ungefähr 40 Tage erzählt, in denen der Held endlich heimkehrt. Die ersten vier Gesänge sind dem Schauplatz Ithaka und der Peloponnes gewidmet, wo Telemach auf der Suche nach seinem Vater Odysseus aktiv wird. Im fünften Gesang springt die Erzählung auf die mythische Insel Ogygia, auf der mit der Trennung des Odysseus von Kalypso dessen Heimkehr in Gang kommt, die durch Ankunft und Aufenthalt bei den Phäaken auf Scheria (Korkyra/Korfu) aber wieder aufgehalten wird. In insgesamt vier Gesängen erzählt dort Odysseus seine Irrfahrten; besonders in diese Berichte mag manches Motiv aus Seefahrermärchen eingegangen sein. Nach dem zwölften Gesang aber erleben wir mit, wie Odysseus auf Ithaka Frau und Königsherrschaft wiedergewinnt. Thematisch wird die »Odyssee« zusammengehalten von der Bewährung des Odysseus in den Nöten der Irrfahrten durch seine Listen, seine Tapferkeit und vor allem seine Treue zu seiner Frau Penelope. Voraussetzung dafür, dass Odysseus seine Königsherrschaft gegen die Freier der Penelope wiedererringt, ist, dass er sich zuvor als ein guter König erwiesen hatte. So ist Odysseus nicht nur der listenreiche Dulder, sondern auch der vorbildliche Herrscher.Eine große Zahl von Gleichnissen steigert die erzählerische Anschaulichkeit der beiden Epen. Dabei ist die »Ilias« in den Bildern und überhaupt in ihrer Sprache archaischer. Das gilt auch für ihr Götterbild. Die Götter der »Ilias« können bei aller Zuwendung zu ihren Schützlingen große Willkür zeigen. In der »Odyssee« steht dagegen die Frage der Rechtmäßigkeit des Verhaltens von Göttern und Menschen stärker im Vordergrund. Nicht die Götter, sondern die Menschen selbst verursachen durch ihre Rechtsbrüche ihr Unglück.Die homerischen Epen waren für die Griechen Grundlage ihrer Bildung: nicht nur Schulbuch, sondern auch Quelle, aus der spätere Dichter schöpften, und Autorität, auf die sich sogar Philosophen berufen konnten. Die epische Großform und Darstellungsweise wurde in der griechischen Literatur später mehrfach wieder aufgenommen. In der römischen Literatur waren Homers Epen unter anderem Vorlage für Vergils Epos »Aeneis« und wirkten vor allem durch diese Vermittlung in der europäischen literarischen Tradition weiter.Die homerischen Epen und das Gilgamesch-EposAuf zwölf Keilschrift-Tontafeln aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. ist, teilweise fragmentarisch, das altbabylonische Gilgamesch-Epos mit über 3 000 Versen überliefert. In seiner wohl um 1200 v. Chr. entstandenen Großform wurden jahrhundertealte, zunächst noch voneinander unabhängige Einzelerzählungen um den sumerischen König Gilgamesch von Uruk, der um etwa 2600 v. Chr. lebte, durch den Priester Sinleke-Unnini zusammengefasst. Das Gilgamesch-Epos war im ganzen Alten Orient bekannt, und Motive mögen ihren Weg auch in die griechische Welt gefunden haben, doch verlieren sich in der europäischen Literatur seine Spuren bis zur Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert.Bei einem Vergleich mit den homerischen Epen zeigen sich gewisse Ähnlichkeiten: Der Held hat Kämpfe zu bestehen und verliert seinen engsten Freund Enkidu wie Achilleus den Patroklos; er muss sich auf eine weite Jenseitsreise begeben - auch Odysseus musste an den Rand der Welt zum Eingang der Unterwelt fahren. Das Gilgamesch-Epos hat einen klaren Aufbau, die Figuren sind deutlich gestaltet, es gibt Monologe und Dialoge. Andererseits wirkt die Darstellung des Geschehens additiv gereiht, nicht wie in den homerischen Epen gedrängt zusammengefasst und vielfältig und eng verwoben. Die religiösen und ethischen Fragen des Menschen, die im Gilgamesch-Epos allgemein angesprochen werden, erscheinen in den homerischen Epen sehr stark von den politischen und sozialen Gegebenheiten der griechischen Welt bestimmt, in der die europäische Kultur einen ihrer Ursprünge hat.Prof. Dr. Hans Armin Gärtner ' Dr. Helga Gärtner
Universal-Lexikon. 2012.